La musica non c'è
- Lara Alina Hofer

- 6. Aug.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 14. Aug.
Ich bin als Wirbelwind geboren. Ich wurde rückwärts aus der Vagina meiner Mutter gepresst und seither habe ich wirklich schon alles gesehen. Mit 18 hatten mich meine Eltern satt und ich zog von unserer wohlbehüteten Dorfgemeinde in Bern in die Grossstadt nach Zürich. Dort verschlug es mich in ein acht Quadratmeter kleines WG-Zimmer in Seebach, dem «Ghetto der Stadt». Und genau dort beginnt diese Geschichte. Diese Geschichte soll nämlich nicht von mir und meinen verrückten Abenteuern erzählen, sondern von Vito.
Zum ersten Mal traf ich Vito in meiner Wohnung an. Ich schmierte mir gerade ein Butterbrot, als er plötzlich hinter mir stand. Ich schrie auf und bedrohte ihn mit dem Küchenmesser: «Wer bist du und was zur Hölle machst du in meiner Wohnung?!» (Besser, er hält mich für stärker, als ich bin. Dann werde ich es auch sein.) Vito riss erschrocken die Augen auf. Da stellte sich heraus, dass er mein neuer Mitbewohner war. (Im Online-Inserat stand, dass ich mir die WG mit zwei Studentinnen teilen würde. Nun hatte die eine offenbar ihr Studium geschmissen, um nach Berlin zu ziehen, und da kam dann Vito ins Spiel, der gerade von Italien in die Schweiz gekommen war, und hier auf ein besseres Leben hoffte.)
Die ersten Wochen sprach Vito kaum mit mir. Er war sehr schüchtern. (Rückblickend denke ich, dass er bloss Angst vor mir hatte. Ihr wisst schon. Wegen der Sache mit dem Küchenmesser.) Er diagnostizierte mich wohl als psychotisch und paranoid, dabei war ich bloss eine junge Frau, die es irgendwie über die Runden schaffen wollte.
Vito war das egal. Vito war vieles egal. Er ging zur Arbeit, kam nachhause, kochte, schlief, und ging wieder zur Arbeit. Wir hatten also denselben Tagesablauf. In unserer Freizeit versuchten wir uns in dieser fremden Stadt zurechtzufinden. Übernahmen die Gepflogenheiten der Zürcherinnen und Zürcher, vollkommen vereinnahmt oder leidenschaftslos entfremdet.
Was die Kommunikation anbelangt, hatten Vito und ich so unsere Schwierigkeiten. Er sprach hauptsächlich Italienisch, und lernte gerade Hochdeutsch. Ich sprach Berndeutsch. Entsprechend lang war jeweils die Stille zwischen uns, wenn wir abends in der Küche standen und Abendbrot zubereiteten. Manchmal kommunizierten wir über unsere Lebensmittel. Ich zerschnitt dann provokativ meine Spaghetti, legte Ananasscheiben auf meine Pizza, und goss französisches Salat-Dressing über meinen Tomaten-Mozzarella- Salat. Nicht, weil ich Vito ärgern wollte. Ich hatte bloss Angst, er würde sonst das Sprechen verlernen. (Zudem hörte ich ihn gerne fluchen. Fluchen ist die ehrlichste Sprache, die ein Mensch sprechen kann. Wer flucht, kann sich nicht verstecken, nicht kontrollieren. Die Worte spritzen dann einfach aus einem heraus, wie aus einem kaputten Springbrunnen.)
Eines Nachts stolperte ich betrunken in unsere Wohnung und torkelte auf den kleinen Balkon. Wie immer, wenn besoffen, wollte ich eine Zigarette haben. Es war drei Uhr morgens, ich liess mich auf den verrosteten Balkonstuhl fallen, atmete erschöpft aus, und klaute eine Zigarette von Vito, der seine Packung Marlboro Gold, gutgläubig wie er war, mal wieder unbewacht auf dem Balkontisch hatte liegen lassen. «Ciao.» Ich zuckte zusammen. Da sass er. Mit mir am Tisch. Vito. Ich hatte ihn gar nicht gesehen. «Ciao.»
Reflexartig zückte ich mein Handy und schaltete Musik ein. Damit die Stille zwischen uns etwas weniger peinlich und die Minuten etwas schneller vorüber waren. Ich rauchte so zügig ich konnte. Vito schien das nicht zu kümmern. Er sass bloss da, an diesem Tisch, auf diesem Balkon, in dieser fremden Stadt - weiss Gott, warum das Leben uns zusammengewürfelt hat. Ich wusste nichts über ihn. Und er wusste nichts über mich. Wir waren zwei unbeschriebene Blätter, die einfach da sassen, sich anschwiegen und Zigaretten rauchten.
Volevo dirti tante cose ma non so da dove. Vito hob ruckartig den Kopf und blickte mich an, plötzlich hellwach. Iniziare, ti vorrei viziare. Er schaute mir zum ersten Mal in die Augen. Blau traf Blau. Baby Blau. Meer Blau. Alles blau. Mettermi fra te e cento lame. Mentre cerco il mare. Ich sah das Meer, wie es sich spiegelte, in seinen Augen. Ich sah seine Heimat, sah Italien, den Strand, und die Wellen, die jetzt in seinen Augäpfeln bebten und in Form einer Träne über seine Wange kullerten. Penso non avrebbe senso fare un tuffo immenso se non ci sei tu a nuotare. «Dieses Lied...», sagte er plötzlich, «ich habe es gehört... in Italia...»
Erst jetzt bemerkte ich, dass auf meinem Handy ein italienischer Song spielte. Ich hatte die Musik bisher gar nicht beachtet, war viel zu vertieft in unser Nicht-Reden. Sei bella che la musica non c'è. Ich musste grinsen, weil sich in meiner «Ausnüchtern»-Playlist offenbar italienische Balladen befanden. E balla senza musica con te. Sei bella che la musica non c'è. Vito sang jetzt leise mit. Er sang nicht für mich, er sang zu mir. Als würde er mir mit den geliehenen Worten seine Welt erklären wollen. Als könnte der Songtext etwas sagen, das er selbst nicht ausdrücken konnte. Ich nickte bloss und lächelte, und musste jetzt an meine eigene Heimat denken, an damals, an Mutter, an die Krankheit, die Blumenwiesen, und an die langen Sommer, die nicht enden wollten, und es dann doch taten.
Mi metti in crisi e in questo testo non ti riesco a disegnare. «Wieso hörst du diese Musik?» Es war die erste Frage, die mir Vito je gestellt hatte. «Ich mag die Melodien.» «Aber du verstehst nicht... den Text.» Das stimmte. Aber musste man etwas verstehen, um es zu lieben? «Soll ich übersetzen versuchen?» Ich nickte überrascht, und Vito begann, zu erzählen: Vom Meer, von der Liebe, der Sehnsucht. Vorrei portarti al mare, anzi portarti il mare. Ich lauschte seiner Stimme wie einem Meeresrauschen, schloss meine Augen und betrachtete sorgfältig die Bilder, die er für mich zeichnete. Die weissen Stellen füllte ich mit meiner Fantasie aus. Was keinen Sinn ergab, radierte ich aus. Ich erschuf ein Paradies, in jener Nacht. Mit Vito, der neben mir sass und leise sang, in die stumme Nacht.
E in fondo tutto quello che volevo lo volevo con te. E sembra stupido ma ci credevo, e ci credevi anche te. E non è facile trovarsi mai, oh mai, oh mai. E tu mi dici è meglio se ora vai, ormai è tardi.
Irgendwann fragte ich Vito, wovor er am meisten Angst hat. Er dachte lange nach, und sagte: «Vor fast allem.» Ich musste beinahe lächeln. Ich hätte wohl dasselbe geantwortet, aber ich habe auch Angst vor Ehrlichkeit. C'è troppa luce dentro la stanza, questo caldo che avanza, io non dormirò.
Auflösung: Diagnose: Angststörung. Vito seit zehn Jahren, ich seit fünf. Es stellte sich in jener Nacht heraus, dass ich der erste Mensch war, mit dem Vito über seine Ängste sprach. Plötzlich wollte er alles wissen, und ich erzählte von meinen dunkelsten Stunden, den Panikattacken und Nahtoderfahrungen. Vito nickte und lächelte, und nickte und lächelte. Und sagte: «Ich auch.» Immer und immer wieder. «Ich auch. Ich auch...» Ich höre es bis heute. «Ich auch.» E scusa se non parlo abbastanza ma ho una scuola di danza nello stomaco.
Heute, viele Jahre später, denke ich nur noch selten an Vito. Ich war überrascht, als kürzlich eine Nachricht von ihm auf meinem Handy aufpoppte. Der italienische Sänger sei in der Stadt, schrieb er, ob wir zusammen an sein Konzert gehen wollen. Ich schloss meine Augen, wie ich es damals auf dem Balkon getan hatte, und stellte mir für einen kurzen Augenblick vor, wie Vito und ich gemeinsam in einer jubelnden Menschenmenge stehen. Wie wir zittern und schwitzen und Angst haben, weil alles so schlimm ist. Aber auch schön. Und - vor allen Dingen - ehrlich. Die Band würde spielen wie verrückt, die Töne würden den ganzen Saal erfüllen, und die Menschenmenge würde wild toben. Und Vito und ich, wir wären mittendrin, mitten im Chaos, und wir würden einfach stehen bleiben. Vielleicht leise singen.
Sei bella che la musica non c'è.
Sei bella che la musica non c'è.
Sei bella che la musica non c'è.
Publiziert im Oktober 2024 im Literaturmagazin «Zwischentext» in Zürich. Link zum gesprochenen Text. Link zur Installation in Zürich, ausgestellt am Zürich Liest Festival 2024 im Karl der Grosse in Zürich.



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