Ein Abstecher in den Strauhof
- Lara Alina Hofer

- 18. Nov.
- 4 Min. Lesezeit
Unsere Kolumnistin Lara Alina Hofer (23) hat sich auf den Spuren der österreichischen Dichterin Friederike Mayröcker zum ersten Mal in den Strauhof in Zürich gewagt. Ein politischer Ort, der Raum schafft für Poesie und Debatte.
Es gibt keinen Satz, der mir heute ferner liegt als: «Ich denke in langsamen Blitzen.» Der Titel der Ausstellung im Museum Strauhof. Ich denke ganz und gar nicht «in langsamen Blitzen». Ich denke in schnellen Blitzen, in Donnerschlägen, in schwarzen Wolken mit Regenfall in einem vernebelten Wirbelsturm. Ich … Ja, wie denke ich eigentlich?
Mit dieser Frage im Kopf öffne ich zum ersten Mal die hinter Efeu versteckten Türen des Strauhofs im Kern der Zürcher Altstadt. Ich schäme mich beinahe, als waschechte Schreiberin nie hier gewesen zu sein. Immerhin wohne ich seit fünf Jahren in dieser Stadt. Aber die Zeit rennt, und ich hinke ihr immerzu keuchend hinterher – auch jetzt.
Es ist Freitagabend, 17.25 Uhr. Das Museum schliesst in 35 Minuten. Ob ich der österreichischen Dichterin Friederike Mayröcker in dieser Zeit gerecht werden kann? Wohl kaum. Über 120 Bücher und Hörspiele zählen zu ihrem Lebenswerk. Versuchen will ich es trotzdem, zahle sechs Franken in bar, und dann nichts wie rein in diese langersehnte Welt, in der Literatur auf visuelle Kunst trifft.
Poetisch ästhetisch verdreckt
Von den Wänden sprechen Zitate. Worte, die einen langen Weg hinter sich haben. Wurden gedacht, gefühlt, geschrieben und gedruckt. Ein Video lässt Mayröckers Schreibmaschine knattern, während ich lese: «Das Einzige, was ich zu reden habe, schreibe ich.»
Ein Hörspiel ermöglicht, poetische Kurztexte zu hören und gleichzeitig Mayröckers Wiener Schreibwohnung zu betrachten: eine literarische Müllhalde. Bis unter die Decke vollgestopft, für Fremde kaum begehbar – wohl mit Absicht – voller Zettel und Manuskripte und Bücher. Poetisch ästhetisch verdreckt. «Nicht nur das Geschriebene, auch die Existenz muss poetisch sein.»
Die grosse Kontroverse und der Rückzieher
Ganz anders sind die Räumlichkeiten des Strauhofs, die sich edel und einladend präsentieren für das intellektuelle Volk. Weisse Decken mit Gravuren. Ein Holzboden, der aufheult bei jedem Schritt, als müsse er zum Stehenbleiben animieren. Ein runder Jackenständer mit weissen Haken. Eine authentisch knarrende Holztreppe.
Der Charakter des barocken Bürgerhauses geht auf das Jahr 1772 zurück. Heute gehört das Haus der Stadt Zürich und wird seit den 1950er-Jahren für kulturelle Veranstaltungen genutzt. Seit den 90ern liegt der Fokus auf der Literatur.
Dann die grosse Kontroverse: 2014 hätte das Museum Strauhof schliessen sollen. Stattdessen wäre das Junge Literatur Labor eingezogen – von dem auch ich Teil bin. Intellektuelle und Kulturschaffende wehrten sich gegen den Entscheid, eine Petition wurde 4000-mal unterschrieben. Es folgten internationale Proteste und Debatten, bis das zuständige Präsidialdepartement unter der Leitung von Stadtpräsidentin Corine Mauch (SP) schliesslich einknickte. Und so schreibe ich heute an der Bärengasse und staune an der Augustinergasse. Und das nicht schlecht.
Wie und warum ich dich liebe
Die zweistöckige Ausstellung gibt einen intimen Einblick in das Leben der 2021 verstorbenen Österreicherin: Geboren 1924 in Wien, wurde ihr Schreiben während des Zweiten Weltkriegs radikalisiert. Sie war Anhängerin des Dadaismus, ihre Gedichte eigenwillig und experimentell, suchend nach einer eigenen, konkreten Sprache. «Eine radikale Art zu denken und zu schreiben.» Für eine radikale Gegenwart.
Mir stechen Mayröckers Buchtitel ins Auge; «mein Herz mein Zimmer mein Name», «da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete», «Larifari». Auch ein Gedichttitel weckt Neugier: «Wie und warum ich dich liebe.» Andere brauchen ein Leben, um diese Frage zu beantworten. Auch ich. Fand es immer schon einfacher, zu sagen, wie und warum ich jemanden nicht liebe. Mayröckers Antwort, frei rezipiert: Wenn du es bist, bin ich nicht sicher, ob ich es bin. Der Spiegel hält mir gleichzeitig entgegen jeden Abend dein Bildnis und mein. Dein Geheimnis im Herzen ist nicht zu lüften, doch es zieht mich von allen am meisten an.
Sprache – welch Heimat!
Trotzdem rät Mayröcker von der Ehe und insbesondere von Kindern ab. Kinder, das sind minus zwanzig Jahre Arbeitszeit. Keine Kinder zu haben, das ist eine Auszeichnung. Die zeigt, dass der Sinn des eigenen Lebens nicht nur in der Fortpflanzung liegt, sondern dass es einen grösseren Sinn gibt. Eine noch dringlichere Mission als die biologische selbst.
Mayröcker instrumentalisierte die Einsamkeit. «Ohne Einsamkeit könnte ich nicht arbeiten.» Freunde und Termine wurden regelmässig vergessen. «Ich muss alles vergessen, um meine Schrift zu Ende schreiben zu können. Hat man sich darauf eingelassen, gibt es kein Zurück, sonst ist es verdorben.» Das Schreiben als Akt der Entleerung. «Es schleicht sich heraus, aus meinem Körper und meinem Kopf, und dann bin ich ganz leer, plötzlich.» Und die Rettung? «Man hängt sich ein bei der Sprache. Und geleitet sich wechselseitig gleichermassen.»
Von nichts und Verdauung
Ganz schön viel Verzicht im Namen der Literatur. Ist Mayröcker Märtyrerin, Genie, Göttin? Oder bloss Verfechterin eines längst veralteten Bildes des einsamen Schriftstellers? Und wovon handelt jetzt eigentlich ihr Werk? Um Allerlei und Alltägliches in Abstraktion, hätte ich gesagt. Eine körperliche Erfahrung. Mayröcker beantwortet die Frage selbst: «Es handelt von nichts. Es ist eine Leibspeise. Eine Leibesspeise.» Und die muss ich jetzt erst mal verdauen.
Im Zunfthaus zur Zimmerleuten, «wo Genuss und Geschichte sich treffen», denke ich bei einer dampfenden Tasse Kaffee an Wien. Zürich. Liebe. Mai. Herbst. Musik. iPhones. Fingernägel. Eine Kellnerin in schwarzen Schuhen und – ich denke, ich denke verzögert, verschmitzt und immerzu viel zu viel.
Lara Alina Hofer (geboren 2001 in Biel/Bienne) ist Poetin, Autorin und Künstlerin. Im Sommer 2025 schloss sie ihr Kunststudium an der Zürcher Hochschule der Künste ab. Lara arbeitet mit Text und Sprache. Sie ist nie ohne Notizbuch und Stift anzutreffen. Ihre Arbeiten reichen vom Gedicht über Kurzgeschichten bis zu poetischen Kurzfilmen. Sie publiziert auch fürs Junge Literaturlabor Zürich. Jene Texte erschienen mehrere Jahre lang jeweils in den Zeitungen der Lokalinfo AG. Nun schreibt Lara Alina Hofer bei Rathuus über «Poesie und Politik».
Dieser Text wurde publiziert am 15. September 2025 im Zürcher Politikmagazin Rathuus.ch. Dort erscheint monatlich die literarische Kolumne «Laras Blick».



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