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Zu Hause im Niederdorf

  • Autorenbild: Lara Alina Hofer
    Lara Alina Hofer
  • 6. Aug.
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 14. Aug.

Jörg, 94 Jahre alt, aufgewachsen in Basel, zog als junger Mann nach Zürich. Sein ganzes Leben verbrachte er an der Münstergasse 20 gegenüber der Bodega. JULL-Stadtbeobachterin Lara Alina, 21 Jahre alt, hat sich für ihn mit dem Notizbuch vor die Kultbeiz gesetzt und ein Glas Rotwein bestellt.


Sprache stellt die Frage nach Zugehörigkeit. Als Schreiberin, von Biel nach Zürich gezogen, lebe ich in einer Zwischenwelt. Wie Schwemmholz bade ich in tintenschwarzem Wasser, kann nicht verweilen, muss weiterziehen.


Umso faszinierter bin ich von Jörg, der vierzig Jahre am selben Ort zu bleiben vermochte, bevor er ins Altersheim zog. Seine ehemalige Wohnung an der Münstergasse 20 muss der schönste Ort auf Erden sein, denke ich neugierig – und genau dort zieht es mich heute hin.


Es ist ein warmer Samstagnachmittag, die Vögel zwitschern, die Sonne strahlt. Ich tanze durch das belebte Niederdorf, grüsse Fremde, verbeuge mich vor einem Giacometti-Gemälde, setze mich in einen dichterisch schönen Innenhof, von ziellosen Gassen umarmt, dazwischen ein Ehepaar, schweigend, liebend.


Ich stecke fest


Dann: die Münstergasse 20. Im Erdgeschoss wütet das Getümmel der Andorra Bar. Mich zieht es nach oben, zu Jörgs ehemaliger Wohnung. Euphorisch steige ich die kupferroten Stufen des fremden Treppenhauses empor. Bis mir der Zugang verwehrt wird, nicht zum ersten Mal – ich stecke vor einer Tür mit Zahlencode fest, stelle mein Glück so lange auf die Probe, bis der Alarm losgeht, und mache mich dann aus dem Staub.


Im ersten Stock grüsst das Restaurant Schlauch und ich bleibe so lange im Türrahmen stehen, bis mich eine junge Kellnerin anspricht. Sie mustert mich skeptisch, betont, ich käme ohne Schlüssel nicht in die Wohnanlage. Ich flehe, verzweifle, erkläre, ich wolle in den vierten Stock gelangen. Da huscht ein Lächeln über ihre Lippen, ein Funken in ihre Augen. «Suchen Sie Jörg?»


Geht es um Dankbarkeit?


Sie schickt ihren Vater zu mir, den Restaurantbesitzer, wohnhaft im dritten Stock und fast vierzig Jahre lang Jörgs Nachbar. «Wer so eine schöne Wohnung hat, geht so schnell nicht wieder raus», sagt er lächelnd. Vielleicht geht es beim Bleiben um Dankbarkeit. Ums Aufhö- ren, Besseres zu erwarten. Oder um einen Ausblick auf den Uetliberg.


Der Mann nimmt mich an der Hand und zeigt mir das Kosmetikstudio von Jörgs verstorbener Frau. «Alles noch wie früher!» Kronleuchter erhellen den Raum, es duftet nach stiller Nostalgie, die gefühlt werden will, mich weit fortträgt, nach Hause vielleicht.


Im Estrich schlummert eine unscheinbare Besenkammer, einst die Bastelwerkstatt von Jörg, und ich denke an Opa und wie er alles Defekte zu reparieren vermochte. Auch mich. Vermisse ihn sehr. Will nicht wehklagen. Muss weiterziehen.


Starten mit Rotwein


Es schwemmt mich in die Bodega, eine spanische Weinstube gleich gegenüber. Ein Musiker mit Sombrero spielt Gitarre und singt. Ich setzte mich draussen an einen runden, dunkelgrünen Tisch. Der Kellner wundert sich: «Du bist nicht zum ersten Mal hier, oder?» Doch. «Seltsam, deine Augen habe ich hier schon mal getroffen.»


Ich denke jetzt an Frau Honegger, be- stelle mir einen Rioja und einen Vino de Jerez. Keine Ahnung, was das ist. Der Kellner sieht mich überrascht an, amüsiert sich köstlich, empfiehlt: «Starten Sie doch vorerst mit Rotwein, erst später Weissen!» Ich nicke dem Erwachsen-werden zu, esse Tapas, schlage ein Buch auf. Man könnte meinen, ich sei längst angekommen.


Noch eine Runde!


Beinahe unmerklich wendet sich die Erde von der Sonne ab, es wird kühl, und ich sehe mir die vorbeiziehenden Menschen an, denke an ihre Geschichten, will sie so gerne noch erzählen. Dann nimmt ein bekanntes Gesicht gegenüber von mir Platz, und wir bestellen noch eine Runde, lachen, erzählen, wie wir die Welt verändern werden, pflücken Altstadtblüten, sitzen lange noch da, sind lange noch wach.


Lara Alina Hofer (21): «Ich bin zu Hause, hauche dem Spiegelbild ins Ohr – eine Fremde, noch immer.»

Publiziert am 29. Juni 2023 in diversen Zeitungen im Zürcher Quartierecho, darunter Züriberg.




 
 
 

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