Zeig mir den Lindenhof
- Lara Alina Hofer

- 6. Aug.
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 14. Aug.
Der Wunsch, wieder einmal vom Lindenhof zu lesen, ist uns immer wieder begegnet. Diese Kolumne ist deshalb Margrit Vogel, 91, und Erika Schumacher, 83, gewidmet. Stadtbeobachterin Lara Alina Hofer, 22, ist für die beiden ausgerückt.
Wintermittwoch. Für den Lindenhof ziehe ich mich an wie für eine Beerdigung. Denn das wird es auch sein.
Ganz in Schwarz schreite ich durch den Schnee. Es liegt gerade so viel, dass man ihn sich von den Stiefeln klopfen kann. In den Gassen der Stadt, auch der Limmat entlang, und von dort geht es für mich hoch hinauf. Es führen viele Wege nach Rom. Und noch mehr auf den Lindenhof. Ich wähle den steilen, langen, muss es mir verdienen, so war das schon immer.
Oben angekommen rieche ich Bratwurst, Regen und Marroni. Die Limmat stinkt ranzig nach Zürichs Körper, den sie täglich reinwäscht. Ich setze mich auf eine grüne Bank, bewundere den Ausblick, da taucht Frau Vanha auf und sagt: «Panta rhei! Du kannst nicht zweimal im selben Fluss baden.» Oder war es Plato, der das gesagt hat? Ich zücke mein Notizbuch.
***
Während die Menschen still sitzen und diskutieren, was mich nicht interessiert, sammelt einer Blätter ein. Ich würde jetzt auch gerne Blätter sammeln, mich auf den Boden setzen und es fühlen: Das Sanfte. Das Echte. Das Urige. Der Beton unter meinen Füssen fühlt sich hart und schwer an. Kettet mich an sich. Hält fest. Will nicht loslassen.
Der eine sammelt noch immer Blätter ein. Sorgfältig, mit einer Geduld und Zärtlichkeit, wie ich sie schon lange nicht mehr gesehen habe. Ich stelle mir vor, wie es wohl wäre. Wie er mich lange betrachten und dann aufheben würde. Wie er mich festhält, mit beiden Händen, bis meine ganze Existenz darin liegt.
Der eine hat jetzt aufgehört, Blätter zu sammeln. Mit dem Laub in den Händen schreitet er zur Lindenhofmauer. Wird er mich jetzt loslassen? Runterschmeissen? Gehen und fliegen lassen? Ich bete, er lässt mich nicht los, doch ich kenne mein Los. Er holt tief Luft, atmet ein, atmet aus – diese Brutalität! –, ein, aus, ein, aus, pfff – und ich bin fort, falle über die Mauer hinaus, schwebe und wirble durch die Lüfte, während ich falle.
In unaufhaltsamer Bewegung fühle ich mich krank, doch frei. Und er! Er lehnt sich über die Mauer hinaus, dort ganz oben schaut er auf mich herab, wie ich tanze, wehe, mich winde. Und ich stelle mir vor, dass er sich jetzt fragt, wie es wohl wäre. Und ob er es aushalten würde, einmal so frei zu sein wie ich.
***
Zwei Geräusche stören meine Fantasie. (Da braucht es schon zwei Geräusche.) Das Jelmoli-Tram kreuzt den 15er Richtung Stadelhofen. Die Sonne grell, der Himmel durchzogen von Wolken wie Geister, die in der Ferne verschwinden. Es ist ein guter Lindenhof-Tag. Alle machen Fotos, keiner sieht hin. Über dem runden Brunnen thront die Statue von Hedwig ab Burghalden. Die Frauen haben hier oben eine Schlacht gewonnen. 1292 mal die Stadt verteidigt. Ich stelle mir das Schweigen der Männer vor.
Vor Jahren schon habe ich die Lindenhofmauer violett angemalt. Das ist mein Geständnis. Ich wasche mich jetzt rein. Herr, es ist Zeit, der Sommer war gross. Ich will jetzt das Eis brechen. Ich will jetzt den Schnee schmelzen lassen. Man kann nicht zweimal im selben Fluss ertrinken.
Ich greife wieder nach meinem Notizbuch, diesmal ganz eifrig, blättere viele Seiten zurück, viele Jahre zurück zum Abschied von heute – und da ist er schliesslich vor mir, der Grund, warum ich heute hier sitze, ganz in Schwarz.
***
Lindehof, Lindehof, zeig mir di Lindehof, zeig mir wie du ne gsehsch, zwing mi nid ungerzgah. Ih risse dr dis Herz use, schnide di uf, zerstöre di vo inne und sitze druf, stah druf, isse dini Organ, mache di leer, damits Platz git für mi, schlüfe dri, wott d’Weut mit dine Ouge gsee, dr Lindehof, iwottneidirgsee, iwottneimirgsee, es git kes richtig oder falsch, es git kes ganz oder gar nid, es git e Wäg und es git es Ziel.
***
Lara Alina Hofer (22): «Manchmal hat Beethoven recht und ‹Es muss sein!›»
Publiziert am 5. Dezember 2024 in diversen Zeitungen im Zürcher Quartierecho, darunter Züriberg.



Kommentare