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Eine Reise über acht Gleise

  • Autorenbild: Lara Alina Hofer
    Lara Alina Hofer
  • 6. Aug.
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 14. Aug.

Brigitte Kaabi, 77, wohnte ihr Leben lang in Oerlikon. Zu «ihrer» Zeit war es dort am Bahnhof noch beschaulich. Wie es jetzt ist, erzählt JULL-Stadtbeobachterin Lara Alina Hofer, 22. Ihre Eindrücke ordnet sie von Gleis 8 bis Gleis 1.


Gleis 8: Hier fängt er für mich an, der Bahnhof Oerlikon. Hier, wo der goldene Andreasturm über das hektische Tagesgeschäft wacht, beginnt diese Geschichte. Ich blicke in den sonnigen Nachmittagshimmel, der keinen Verdacht aufkommen lässt, dass er seine blaue Laune je wieder ändern könnte. Den Schwalben hinterher gleitet mein Blick hinüber zum Andreas- turm, der mir Bilder wie Linsen über den Augapfel legt. Erinnerungen tauchen auf an eine warme Sommernacht vor vielen Jahren. Du und ich, Seite an Seite im 21. Stock, unter uns die ganze Stadt und zwischen uns die halbe Welt. Du hast mich geküsst und ich schmeckte all das, was sich nicht verwirklicht in mir ohne dich. Als ich die Augen öffnete, warst du lange schon fort. Ich sang ein Lied, in die stille Nacht.


*****


Gleis 7: Auf dem Betonboden kleben Fetzen eines Romans. «Die Krise der Narration.» Zerrissene Überbleibsel einer Geschichte liegen da wie Konfetti und warten auf eine zweite Chance. Ich hebe sie auf. Aus den Satzenden bastle ich mir einen Text zusammen. Versuche, aus dem Ende Sinn zu machen. «Ein Schrei. Zur Veranda hinaus. Ihr seid eine Ansammlung von Gefühlskalten! Solltet ihr doch Unruhe und Reue empfinden! Ich verliere das Gleichgewicht. Gerate ins Wasser. Direkt ins Meer. Irgendwie schön.»


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Gleis 6: Ich spreche zwei Fremde an. Ihr permanentes Grinsen, ihre vernebelten Augen und Unmengen an Körperkontakt lassen mich glauben, dass sie verliebt sind. Oder auf Drogen. Was ohnehin dasselbe ist. Neben ihnen stehen zwei Rollkoffer, die meine Neugier wecken. Wohin? Woher? «Aus dem Süden», antworten Marcel und Luise. Wo genau? «Mallorca.» Wie war das Wetter? «Wärmer als hier.» Und das Wasser? «Zum Baden im Meer war es zu kalt, im Hotel gab es ein beheiztes Hallenbad.» Metaphorisch. Ja, wirklich gerne hätte ich dieses Gespräch weitergeführt. Doch Luise kann es nicht lassen. Sie stellt die alles vernichtende Frage: «Und Sie, sind Sie vo Bärn?»


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Gleis 5: Die blauen Anzeigetafeln zweier nebeneinanderliegender Gleise formen, zusammen mit dem Stahlpfosten in der Mitte, ein Kreuz Christi. Am Kreuz hängt die Zeit. Der blutrote Sekundenzeiger dreht sich schonungslos im Kreis. Bitte vergib mir meine Sünden, Zeitlich- keit! Vergib, dass ich die Frage noch immer nicht weiss. Die Antwort hingegen steht darunter schon bereit: «Stromschlag tötet. Leitung unter Spannung. Abstand halten.»


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Gleis 4: «So unbequem isch es gar nöd», sagt Marie, die ich anspreche, weil sie in ihren Skischuhen auf dem Bahnsteig steht. Die letzten vier Tage hat sie in der Alphütte ihrer verstorbenen Mutter verbracht. Loslassen fällt schwer. Ebenso das Darüberreden. Stattdessen: «Die Schneeverhältnisse waren gut. Die Berge – ruhig. Das Wetter – auch gut.» Natürl ... Ich schmeisse mein Notizbuch auf den Boden, stampfte und schreie: «Marie! Sag mir etwas Bedeutendes! Etwas, woran ich mich festhalten kann! In einem Meer aus Belanglosigkeiten habe ich nicht zu schwimmen gelernt! Bin ich nicht zu schwimmen gewohnt!» Ach was. Ich bin längst Opfer meines Anstands geworden.


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Gleis 3: Mama ruft an. «Ich hasse Bahn- höfe», sagt sie. «Diese scheusslichen Orte des Abschieds.» Als Mama achtzehn war, zog sie für ein halbes Jahr nach Lausanne. Französisch lernen. Leider war sie unglaublich verliebt in einen Mann aus ihrem Dorf, meinen zukünftigen Vater, und so kehrte sie jedes Wochenende heim, um bei ihm zu sein. Um gemeinsam mit ihm dem Unvermeidlichen entgegenzutreiben.


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Gleis 2: Ich blicke hinüber zum «Gleis 9», dem grössten Gebäude, das europaweit je verschoben wurde. Im Mai 2012 hat man das Haus mit Kranen ausgerissen, entwurzelt und sechzig Meter weiter rechts wieder abgesetzt. Auch heute trägt das Gebäude eine Rüstung. Wird verändert, verbaut, verschraubt. Vielleicht will es gar nicht zur Ruhe kommen.


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Gleis 1: Ich stehe am anderen Ende. Abend, wie bist du gross, verglichen mit der Kleinheit des Morgens, dem die Gefühle fehlen! Musst du dich schämen, so seelenvoll zu sein? Durch die blätterlosen Bäume lässt sich der Andreasturm bloss noch erahnen. Eine entfernte Silhouette, ein Schatten ohne Namen. Oder brennt da noch ein Licht, ganz oben, im 21. Stock? – Ach was. Ich sang ein Lied, in die stille Nacht.


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Lara Alina Hofer (22): «Ich schüttle, wenn ich gehe, den Rucksack aus.»

Publiziert am 25. April 2024 in diversen Zeitungen im Zürcher Quartierecho, darunter Zürich Nord.




 
 
 

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